„Sie verwechseln, wo welche Hauptstadt ist, so sehr haben Sie sich in Moskau festgesessen“

Anastasia Karkotskaya

Nikita Chruschtschow versprach der Sowjetbevölkerung den Übergang zum Kommunismus für das Jahr 1980. Weder er noch seine Nachfolger konnten dieses Versprechen einlösen – der formale Abschluss des Projekts Sowjetunion, sein Zerfall, ging mit zahlreichen bewaffneten Konflikten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetrepubliken einher. Die diesem Prozess gewidmete Studie „Armageddon Averted“ von Steven Kotkin nimmt nicht zufällig die Periode zwischen 1970 und 2000 in den Blick und könnte auch bis in die heutige Zeit ausgeweitet werden. Auch die Filmemacher der einzelnen Sowjetrepubliken warnten auf ihren Kongressen während der Perestroika davor, dass das Armageddon eigentlich nicht mehr aufzuhalten sei. In diesem Essay will ich zeigen, wie sich in dieser Zeit die Debatten der sowjetischen Filmemacher von den Beschränkungen des Filmverleihs hin zur Analyse imperialer Politik und der Notwendigkeit gegenseitiger Unterstützung verlagerten.

1985 übernahm Michail Gorbatschow das Amt des Generalsekretärs des ZK der KPdSU: „Ein schöner Mann, der wie ein normaler Mensch spricht, noch dazu gut spricht, ganz ohne Spickzettel, dafür mit einnehmendem Lächeln.“ [1]

[1] So lauteten die ersten Urteile über den neuen Machthaber, wie sich Nina Mamardaschwili, Raissa Gorbatschowas Mitbewohnerin im Studentenwohnheim, erinnert.

Vom 25. Februar bis 5. März 1986 wurde in Moskau der XXVII. Parteitag der KPdSU abgehalten. Auf diesem wurde das Parteiprogramm korrigiert. Die Linie der Partei verlagerte sich weg vom Aufbau des Kommunismus hin zur Vollendung des Sozialismus, der „vollständig und endgültig“ [2] gesiegt habe. Statt der „frohen Zukunft“ stand die Anerkennung bestehender Probleme der Gegenwart und folglich deren Unvollkommenheit im Fokus.

Die Unausweichlichkeit des Kommunismus wurde schon nicht mehr postuliert, dafür aber die erfolgreiche Lösung der nationalen Frage [3] – die Sowjetbürger müssten nur noch eine „einheitliche sowjetische Volkskultur auf Basis der höchsten Errungenschaften und der eigenständigen progressiven Traditionen der Völker der Sowjetunion“ [4] entwickeln.

[2] Materialy XXVII s“ezda Kommunističeskoj partii Sovetskogo Sojuza. Moskva: Politizdat 1986, S. 126. [Übers.: XXVII. Parteitag der KPdSU: Dokumente. Berlin: Dietz Verlag 1986]

[3] Ebd., S. 156

[4] Ebd., S. 157

Auf diesem Parteitag wurde der Begriff „Glasnost“ (Offenheit) geprägt: Die neue Leitlinie der Redefreiheit führte zu einer Reihe hitziger öffentlicher Debatten über die jüngere Vergangenheit. Einerseits führte Glasnost zu mehr Freiheit in der öffentlichen Sphäre, andererseits stellte sie aber auch einen wichtigen Hebel zur Durchsetzung der offiziellen Kulturpolitik der späten UdSSR dar. Bedeutende Filme passierten dank Beziehungen und Patronage die Zensur und konnten veröffentlicht werden. Anders gesagt wurde die viel beschworene Redefreiheit de facto genauestens und höchst willkürlich kontrolliert. Ein gutes Beispiel dafür ist „Die Reue“ von Tengis Abuladse. Das Drehbuch wurde nicht von der obersten Zensurbehörde Goskino geprüft, weil der angehende Außenminister des UdSSR Eduard Schewardnadse seine persönlichen Kontakte in hochrangige Kreise spielen ließ.

Schon bald wurde in der öffentlichen Debatte deutlich, dass die nationale Frage eine der drängendsten für die sowjetische Bevölkerung blieb und nach wie vor ungelöst war. [5] Auch an der Umsetzung der Redefreiheit kommen zumindest bei der Lektüre der Tagebücher eines der engsten Mitarbeiter Gorbatschows, Anatolij Tschernajew, Zweifel auf. Laut einem Eintrag von 1986 „ermutigt der Generalsekretär die ‚Durchsetzung‘ von Glasnost, aber sieht sie immer noch als eine Waffe der Partei bei der Umsetzung von Veränderungen, und nicht als ‚Redefreiheit‘, die nach ihrer eigenen Logik funktioniert.“[6]

[5] Moore, D.: Is the Post- in Postcolonial the Post- in Post-Soviet: Toward a Global Postcolonial Critique // Publications of the Modern Language Association 2001. Vol. 116. № 1: S. 111–128; Kukulin, I.: Vnutrennjaja postkolonizacija. Formirovanie postkolonial‘nogo soznanija v russkoj literature 1970-2000x godov // Tam, vnutri: praktiki vnutrennoj kolonizacii v kul‘turnoj istorii Rossii: sbornik statej/ red.: A Ėtkind, D. Uffel‘man, I. Kukulin. Moskva: Novoe literaturnoe obozrenie 2012: S. 846-909. [dt.: Kukulin, I.: Innere Postkolonialisierung. Die Herausbildung des postkolonialen Bewusstseins in der russischen Literatur von den 1970ern bis in die 2000er]; Lipoveckij, M.: Sovetskie i postsovetskie transformacii sjužeta vnutrennej kolonizacii // Tam, vnutri: praktiki vnutrennoj kolonizacii v kul‘turnoj istorii Rossii: sbornik statej/ red.: A Ėtkind, D. Uffel‘man, I. Kukulin. Moskva: Novoe literaturnoe obozrenie 2012: S. 809–845. [dt.: Lipovezki, M.: Sowjetische und postsowjetische Transformationen des Sujets der inneren Kolonisierung]

[6] Černaev, A.: Proekt. Sovetskaja politika 1972-1991 gg. – vzgljad isnutri, 1986 god // Dnevniki A. S. Černaeva – Sovetskaja politika 1972-1991 gg. URL [dt.: Tschernajew, A.: Tagebücher. Die sowjetische Politik zwischen 1972 und 1991. Der Blick von innen]

Von diesen Einschränkungen abgesehen begann nun die zweite Welle der Destalinisierung des Kulturbereichs nach dem Tauwetter und somit die kritische Reinterpretation und Aufarbeitung der Vergangenheit [7] im öffentlichen Diskurs. Diese Entwicklung machte nicht nur eine kritische Betrachtung der jüngeren Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart möglich.

[7] Adorno, T.: Čto značit „prorabotka prošlogo“? // Neprikosnovennyj zapas 2005, No. 2-3, S. 36-45. [Übers. des Transkripts von: Adorno, T.: Was bedeutet „Aufarbeitung der Vergangenheit“?]

Der erste Kulturverband, der dem Aufruf zum Umbau (Perestroika) folgte, war der Verband der Filmschaffenden der UdSSR. Sein 5. Kongress im Mai 1986 wird von vielen russischen Filmkritikern als revolutionär bezeichnet – danach kamen endlich viele Filme in die Kinos, die vorher in den Regalen der Zensurbehörden verstaubten. Aber wenn man die Protokolle dieses Kongresses genauer betrachtet, wird deutlich, dass im Mittelpunkt der Diskussionen eine Frage stand, die zeitgenössischen Kritikern nicht ferner liegen könnte – die Frage nach dem Zustand des Kinos in den einzelnen Sowjetrepubliken.

Der unter dem Titel „Die gesellschaftliche Demokratisierung und das nationale Kino in der Perestroika“ veröffentlichte Bericht über die fünfte Vorstandssitzung des Filmverbands kritisierte, dass die Kulturpolitik Stalins zwangsläufig zur Uniformierung der Kunst geführt habe: „Das Dekret des ZKs der WKP(b) [Vsesojuznaja kommunističeskaja Partija (bol‘ševikov), Name der Kommunistischen Partei zwischen 1925 und 1952; Anm. d. Übers.] von 1932, die aufkommende Theorie über den Sozialistischen Realismus, die einen vorrangig protektiven Charakter hatte, und schließlich das Dogma der stalinschen Ästhetik: national in der Form, sozialistisch im Inhalt. Diese stalinsche Losung führte zur Vereinheitlichung des Inhalts. Das Nationale wurde zum Prärogativ der Form, aber gewaltsam losgelöst vom Inhalt hatte es einen vollkommen äußerlichen, ornamentalen Charakter. Aufgrund seiner visuellen, bildlichen Natur bedeutete die nationale Form für den Film die Abbildung konkreter physiologischer Typen, regionaler Kostüme, Szenerien und Kulissen, Lebens- und Arbeitsformen.“[8]

[8] Pjatyj plenum pravlenija sojuza kinematografistiv SSSR. Demokratizacija obščestva i nacional‘nyj kinematograf v uslovijach perestrojki. 15-16 nojabrja 1988 goda. Stenografičeskij otčet. Iz vystuplenij učastnikov plenuma. Moskva: Sojuz kinematografistov SSSR 1988, S. 11. [dt.: Fünfte Vorstandssitzung des Verbandes der Filmschaffenden der UdSSR. Die gesellschaftliche Demokratisierung und das nationale Kino in der Perestroika. 15.-16. November 1988. Stenographischer Bericht. Reden der Sitzungsteilnehmer.]

In „Everyday Stalinism“ stellt Sheila Fitzpatrick fest, dass sich der „Stalinismus als spezifisches Lebensumfeld“ in den 1930er Jahren herausgebildet hat und in seinen Grundzüge bis zur Perestroika bestehen blieb.[9] Der sowjetische Staat gerierte sich als Bewahrer des „Volksgeists“ und „Erzieher zum Patriotismus“, und „sein Programm der Nationenbildung und der Stärkung des Volksgeists konnte selbst für jene anziehend wirken, die sich über den Mangel beschwerten“. [10]

Darüber hinaus „erreichte das Regime, dass es im Bewusstsein vieler Bürger mit Fortschritt assoziiert wurde. Egal, ob das sowjetische Regime den breiten Massen legitim erschien oder nicht – seine modernisierende (zivilisierende) Agenda war offensichtlich.“[11]

[9] Ficpatrik, Š.: Povsednevnyj stalinism. Social‘naja istorija Sovetskoj Rossii v 30-e gody: gorod. Moskva: ROSSPĖN 2008, S. 9-10. [Engl. Orig.: Fitzpatrick, Sheila: Everyday Stalinism. Ordinary Life in Extraordinary Times: Soviet Russia in the 1930s. New York/ Oxford: Oxford University Press 1999]

[10, 11] Ebd., S. 269.

Die Kulturpolitik als Mittel zur Machtkonzentration entlang der Achse „Sowjetrepubliken – Moskau“ übte direkten Einfluss auf die regionalen Filmstudios und die dort produzierten Filme aus. Dies wurde von den Filmemachern aus den anderen Sowjetrepubliken harsch kritisiert, nachdem öffentlich dazu aufgerufen worden war, den gesellschaftlichen Umbau anzugehen und die Vergangenheit neu zu reflektieren.

So zum Beispiel in diesem Auszug aus der Rede des georgischen Regisseurs Eldar Schengelaia auf dem 5. Kongress des Verbandes der Filmschaffenden: „Heute, wo auch Filme aus den Sowjetrepubliken ins sowjetische Kulturerbe eingehen und die Qualität des sowjetischen Kinos ein einheitliches Niveau erreicht hat, hat sich das System der Einmischung in die künstlerischen Prozesse durch „Eingebungen aus dem Zentrum“ überlebt, ja eher zu einem Bremsschuh der Entwicklung verwandelt.“[12]

[12] E. Šengelaja: Stenogramma V s“ezda kinematografistov SSSR „Ob idejno-tvorčeskich zadačach sovetskogo kinoiskusstva v svete rešenij XXVII s“ezda KPSS“. 13 maja 1986 g. Pervyj den‘. Moskva: Sojuz kinematografistov SSSR 1986, S. 89. [dt.: Stenogramm des 5. Kongresses der Filmschaffenden der UdSSR: Über die ideellen und künstlerischen Aufgaben der sowjetischen Filmkunst im Licht des XXVII. Parteitages der KPdSU. 13.05.1986. Tag 1.]

Trotz der angeblich allgegenwärtigen Demokratisierung entließ das Staatliche Filmkomitee der UdSSR für das Kino (Goskino SSSR) die Filmstudios der Sowjetrepubliken auch 1986 nicht aus seiner Kontrolle. Laut einer im diesem Jahr erlassenen Verordnung ist durch die „Filmkomitees der Sowjetrepubliken oder die den Organen der Union unterstellten Filmstudios dem Filmkomitee der UdSSR das auf Grundlage eines bewilligten Filmmanuskripts erarbeitete Drehbuch (in russischer Sprache, sieben Ausfertigungen) zusammen mit den finanziellen und wirtschaftlichen Eckdaten der Produktion zu übersenden, um in den Spiel- und Produktionsplan aufgenommen zu werden“.[13]Außerdem ist Goskino „eine ausführliche Stellungnahme des Redaktionskollegiums des jeweiligen Drehbuchs und des künstlerischen Rates des Filmstudios (Körperschaft), unterzeichnet durch den Chefredakteur, zur Verfügung zu stellen; darüber hinaus das Protokoll des künstlerischen Rates des Studios (Körperschaft) über die Ergebnisse der Erörterung des Drehbuchs“. Zudem werden „Einzelfälle“ aufgeführt:

„In Einzelfällen hat das Oberste Redaktionskollegium für Spielfilme bei Goskino das Recht, zur Entscheidungsfindung über die Aufnahme des Films in die Spiel- und Produktionspläne von den Filmstudios eine Erläuterung des Regisseurs über den zu produzierenden Film zu verlangen, in dem dieser die Besonderheiten seines Vorhabens und den Hintergrund seiner konzeptionellen und künstlerischen Entscheidungen darlegt.“[14]

[13] Gosudarstvennyj komitet SSSR po kinematografii (Goskino SSSR) Prikas No. 279, ot 14.07.86: O nekotorych merach po uporjadočnogo organizacii kinoproisvodstva, g. Moskva // CGALI SPb, Fond 257, Opis‘ 37, Delo 2 // Prikazy i postanovlenija Goskino SSSR (načato 10.01.86-10.12.86) [dt.: Staatliches Filmkomitee der UdSSR (Goskino SSSR): Verordnung Nr. 279 vom 14.07.1986: Über einige Maßnahmen zur Neuordnung der Organisation der Filmproduktion.]

[14] Ebd.

Als Reaktion auf die von den Mitgliedern des Verbands der Filmschaffenden vorgebrachten Vorschläge zur Reformierung von Goskino wurde noch ein weiteres Glied in die Kontrollkette eingefügt und nun unterstanden die Vorstände der regionalen Kinoverwaltungen nicht nur Goskino, sondern auch dem Kulturministerium der jeweiligen Sowjetrepublik.

Dawlatnasar Chudonasarow, Regisseur und erster leitender Sekretär des Verbands der Filmschaffenden Tadschiskistans, äußerte auf den 5. Kongress des Filmverbandes seine Sorgen über die „Darstellung der Nationalitäten“, denn die Darbietung festgefahrener Klischees sei nicht in der Lage, den Zuschauern die Probleme und Lebensumstände der einzelnen Republiken zu vermitteln und könne sogar die Wahrnehmung einzelner Regionen verstümmeln: „Das Kino ist das wichtigste Mittel, um die Völker unseres multinationalen Staates einander näher zu bringen. Aber wenn Filme mittelmäßig gemacht, wenn sie ethisch und ästhetisch minderwertig sind, werden die Zuschauer dementsprechend reagieren – und zwar nicht nur auf den künstlerischen Wert, sondern auch auf die Darstellung unserer Nationalität … Wir dürfen nicht vergessen, dass der Großteil der Zuschauer die Kultur, die Lebensverhältnisse und die moralischen Werte anderer Völker zuerst und oft ausschließlich durch den Film kennenlernt.“[15] Er mahnte außerdem an, dass die Filmschaffenden, die nicht wollen, dass die „Giftschlange des Nationalismus“[16] ihr Haupt erhebt, auch die Verantwortung für die Wahrnehmung ihrer Region übernehmen sollen.

[15] Stenogramma V s“ezda kinematografistov SSSR „Ob idejno-tvorčeskich zadačach sovetskogo kinoiskusstva v svete rešenij XXVII s“ezda KPSS“. 13 maja 1986 g. Pervyj den‘. Moskva: Sojuz kinematografistov SSSR 1986, S. 95-96.

[16] Ebd., S. 96.

Michail Belikow vertrat die ukrainische Delegation, dankte für die Hilfe bei der Verhinderung von negativen Folgen des Reaktorunfalls in Tschernobyl, aber konnte nicht umhin, sich angesichts der Frage „Eint uns wirklich nur das Leid?“ an das Gleichnis „Es war, wie es war, und es wird sein, wie es war“ zu erinnern – „neben der Hommage an den Humor steckt in diesen Worten die große Weisheit des Volkes und viel Hoffnung. Hoffnung und Glauben, die auf Pflicht, Moral und dem bürgerlichen Gewissen von uns allen beruhen.“[17]

[17] Stenogramma V s“ezda kinematografistov SSSR „Ob idejno-tvorčeskich zadačach sovetskogo kinoiskusstva v svete rešenij XXVII s“ezda KPSS“. 13 maja 1986 g. Pervyj den‘. Moskva: Sojuz kinematografistov SSSR 1986, S. 87.

Laut Chodschakuli Narlijew, dem ersten leitenden Sekretär des Verbands der Filmschaffenden Turkmenistans, sei es im Filmverleih nie gleichberechtigt zugegangen: „Am offensichtlichsten sind die Auswüchse der Verleihpolitik bei der Behandlung der Filme aus den Republiken. Es gibt schlechte, mittelmäßige und wirklich künstlerisch wertvolle turkmenische Filme. Aber für den Verleih sind sie wie Zwillinge und Stiefkinder: Der Nimbus der Uneinträglichkeit ist in den genetischen Code der Marke Turkmenfilm eingeschrieben.“[18] So wurde der turkmenische Film „Ein Mann von sechs Jahren“ (Muzhskoe vospitanie) zunächst als unverkäuflich eingestuft, bis er nach vielfacher Würdigung durch internationale Festivals den Staatspreis der UdSSR erhielt.[19]

Chodschakuli Narlijew schlug vor, diese Schieflage durch eine Retrospektive des turkmenischen Films in den Moskauer Kinos zu berichtigen: „Diese Ehre wurde uns noch nicht zuteil. Die Antworten waren voll der warmen Worte – und gleichzeitig werden darin Aschgabat, Duschanbe und andere Städte Zentralasiens durcheinandergebracht. Aber der Sinn unseres Vorschlages besteht ja genau darin, dass Aschgabat, Duschanbe und andere Städte nicht mehr ständig verwechselt werden, Genossen. Wenn ein solcher Vorschlag aus den gleichen finanziellen Erwägungen nicht umgesetzt wird, dann leiden darunter zwar nicht die Finanzen, dafür aber die Kultur und unsere Ideologie.“[20]

[18] Stenogramma V s“ezda kinematografistov SSSR „Ob idejno-tvorčeskich zadačach sovetskogo kinoiskusstva v svete rešenij XXVII s“ezda KPSS“. 13 maja 1986 g. Pervyj den‘. Moskva: Sojuz kinematografistov SSSR 1986, S. 176-117.

[19, 20] Ebd., S. 178.

Jānis Streičs richtete sich direkt an den leitenden Sekretär des Verbandes der Filmschaffenden: „Ich bin der Delegierte Lettlands. Die Hauptstadt Lettlands, verehrter Genosse Kulidschanow, ist Riga. Nicht Kaunas, nicht Vilnius, nicht Druskininkai, sondern Riga. Und in Riga sind die Regisseure Frank und Seleckis tätig, das sind lettische Regisseure, und nicht litauische, als welche Sie sie in Ihrem Rechenschaftsbericht bezeichnet haben. Das sind keine Versprecher, das ist symptomatisch. Darüber hat gestern auch der Delegierte aus Zentralasien gesprochen, aber Sie verwechseln, wo welche Hauptstadt ist, so sehr haben Sie sich in Moskau festgesessen.“[21]

[21] Stenogramma V s“ezda kinematografistov SSSR „Ob idejno-tvorčeskich zadačach sovetskogo kinoiskusstva v svete rešenij XXVII s“ezda KPSS“. 13 maja 1986 g. Pervyj den‘. Moskva: Sojuz kinematografistov SSSR 1986, S. 79

Lew Kulidschanow, den Jānis Streičs adressierte, stand von 1963 bis 1964 der Hauptverwaltung für Spielfilme bei Goskino vor und war von 1965 bis 1986 der erste leitende Sekretär des Verbands der Filmschaffenden. Im Editorial des Jahrbuchs „Ekran“ für die Saison 1972/73 schrieb er, dass die Filmstudios der Sowjetrepubliken über alles verfügen, was sie für ihre Arbeit brauchen, und dass ihre Neuerscheinungen „sehr realitätsnah, leidenschaftlich parteiisch und kunstfertig die Vergangenheit und Gegenwart unserer Völker zeigen, und dabei den Schwerpunkt auf die zentralen Probleme des Aufbaus des Kommunismus und der Erziehung zum Kommunismus legen“[22].

[22] Kulidžanov, L.: God pjatidesjatiletija SSSR // Ėkran, 1972-1973. Moskva: Iskusstvo 1974, S. 5. [dt.: Kulidschanow, L.: Das 50-jährige Bestehen der Sowjetunion, in: Ekran 1972/73. 

Indes konnten beispielsweise während der gesamten sowjetischen Periode in der Armenischen Sowjetrepublik keine Filme über den Genozid an den Armeniern und über die Beziehungen zur Türkei gedreht werden. Mikajel Stambolzjan beschrieb die imperialen Beziehungen zwischen den zentralen Behörden und dem Filmstudio Armenflim folgendermaßen: „Wenn das armenische Volk etwas besitzt, dann ist es seine Geschichte. Aber in den 65 Jahren sowjetischer Filmproduktion wurden gerade einmal drei in Armenien spielende Historienfilme produziert. Einer behandelt der Eroberung der Festung Jerewan durch die Armee General Paskewitschs und der Annexion Ostarmeniens durch Russland. Der zweite spielt einhundert Jahre zuvor und im großen Finale kommt dem Feldherrn Mchitar ein russischer Trupp zu Hilfe. Dieses an einen in Armenien sehr populären Roman Sero Chansadians plump angestückelte Ende wurde für die Vorführerlaubnis benötigt. Und sowohl denen, die sich dies ausdachten, als auch denen, die dies genehmigten, war vollkommen gleichgültig, dass es zu Beginn des 17. Jahrhunderts noch keine Hubschrauber gab – nur damit wäre es russische Soldaten möglich gewesen, zu diesem Zeitpunkt auf dieses Fleckchen Erde zu gelangen. Man war einfach der Meinung, so das Volk und den Film retten zu müssen, auch wenn dies den historischen Fakten, den geographischen Gegebenheiten und selbst dem gesunden Menschenverstand widerspricht.“[23]

Die plötzlich hereinbrechende Kritik aus den Unionsrepubliken führte zur Einberufung der fünften Vorstandssitzung des Verbandes der Filmschaffenden der UdSSR im Jahre 1988 unter dem Motto „Die gesellschaftliche Demokratisierung und das nationale Kino in der Perestroika“. Die Filmgemeinde wurde aufgerufen „frei, aber vereint, und vereint, aber frei“[24] zu sein.

Auf der Sitzung wurden die realen Möglichkeiten der Perestroika von Andrej Smirnow, der das Amt des ersten Sekretärs des Gesamtverbands der Filmschaffenden kommissarisch übernommen hatte, in Zweifel gezogen: „Der Widerstand der Verwaltung ist deutlich spürbar. Auch wenn sie sich formal zu den Ideen der Perestroika bekennt, bekämpft sie erbittert ihre reale Umsetzung.“[25] Aus dem Munde des vorherigen Vorsitzenden Kulidschanow wären solche Aussagen unvorstellbar gewesen. Genau wie diese: „Es scheint, als ob der notorische Verwaltungsapparat seinen heimlichen Plan erfolgreich in die Tat umsetzt, harte Vergeltungsschläge gegen die vorlauten Filmemacher zu führen, die mit als erste versuchten, seine erdrückende Macht zu begrenzen.“[26]

 Rihards Pīks, der Leiter des lettischen Filmstudios und Geschäftsführer des Verbandes Latvijaskino vergleicht 1988 das System der Filmstudios mit dem administrativen Aufbau des Staats: „Ein paar Worte noch zu einer in unserem System angelegten Gefahr. Unser Konzept sieht sowohl Pluralismus als auch Selbstständigkeit als auch Souveränität der verschiedenen Filmstudios vor. Aber schon wieder sind gegenläufige Tendenzen wahrnehmbar. Und dasselbe betrifft die Republiken insgesamt und die Vorschläge zur Verfassungsänderung.  Wir haben diese Frage diskutiert und sind zum Ergebnis gekommen, dass es keine Selbstständigkeit der einzelnen Gliederungen im Rahmen einer unionsweiten Vernetzung geben kann, wenn die einzelnen Gliederungen nicht souverän sind, sei es im Filmwesen, sei es als Republik. So sind auch die vorgeschlagenen Verfassungsänderungen zu bewerten. Uns scheint, dass diese von einem Bewusstsein ausgehen, das jahrelang in uns genährt wurde, vom Bewusstsein des Zentralismus, in dem Souveränität nicht vorgesehen ist. Wir glauben, dass zuerst die Verfassungen der einzelnen Sowjetrepubliken erarbeiten werden müssen und erst danach eine gemeinsame sowjetische Verfassung. Es besteht kein Grund zur Sorge, dass sich die einzelnen, wenn ihnen mehr Freiheit zuerkannt wird, aus dem Staub machen. Wir wissen doch alle nur zu gut, dass ein Hund, der an der Leine gehalten wird, viel aggressiver ist, als einer der sich frei bewegen kann und dabei doch seinen Herren kennt.“[27]

[23] Pjatyj plenum pravlenija sojuza kinematografistiv SSSR. Demokratizacija obščestva i nacional‘nyj kinematograf v uslovijach perestrojki. 15-16 nojabrja 1988 goda. Stenografičeskij otčet. Iz vystuplenij učastnikov plenuma. Moskva: Sojuz kinematografistov, S. 59-60.

[24] Ebd., S. 30.

[25] Ebd., S. 2.

[26] Ebd., S. 16.

[27] Ebd., S. 54.

Auch in der Vorstandssitzung des Filmverbandes 1989, die der „Erneuerung des künstlerischen Bewusstseins“ gewidmet war, thematisierte der leitende Sekretär des Filmverbandes der Litauischen Sowjetrepublik Algimantas Mažuolis das fehlende Verständnis des Zentrums der nationalen Politik gegenüber: „Es ist erst zwei Wochen her, dass auf Anregung des Verbandes des Filmschaffenden der UdSSR in Vilnius ein runder Tisch zum Thema „Kino und nationale Politik“ stattgefunden hat. Die Delegation aus dem Zentrum reiste an, um uns die richtige Behandlung nationaler Fragen im Film zu lehren. Sie sagten: ‚Warum wollt ihr aus der Sowjetunion austreten? Lasst das lieber, denn selbst ein untergehendes Imperium lässt so etwas nicht ohne Widerstand geschehen. Also reizt die Bestie nicht.‘“[28]

[28] Kinematograf: obnovlenie chudožestvennogo soznanija. Vos‘moj plenum pravlenija Sojuza kinematografistov SSSR. 15-17 maja 1989 g. Iz vystuplenij učastnikov plenuma. Moskva: Sojuz kinematografistov SSSR 1989, S. 51. [dt.: Erneuerung des künstlerischen Bewusstseins im Film. Achte Vorstandssitzung des Verbandes der Filmschaffenden der UdSSR. 15.-17. Mai 1989. Aus den Reden der Sitzungsteilnehmer.]

In der Resolution dieser Sitzung des Filmverbands wurde verkündet, dass man „das imperiale Modell der ‚kulturellen Einheit‘ der Völker der Sowjetunion“ ablehne, „da damit die die historisch gewachsenen, kulturellen Eigenheiten ausradiert werden. Es muss ein föderales Modell der kulturellen Einheit geschaffen werden, dass die kulturelle Souveränität aller Völker anerkannt. Aktuell orientiert sich die nationale Filmproduktion ausschließlich an den administrativen Grenzen der Sowjetrepubliken. Die Völker, die keinen Republikstatus haben, haben keine Möglichkeit, in die nationalen und internationale Filmlandschaft Einzug zu halten. Aber auch das Vorhandensein eines eigenen Filmwesens führt nicht automatisch zur vollen Ausprägung seines eigenständigen Wertes, wenn seine Entwicklung durch politische und ideologische Vorgaben vorherbestimmt wird.“[29]

1990 stellte Eldar Schengelaia fest, dass „bezogen auf den russischen Filmverband der Gesamtverband der Filmschaffenden der UdSSR sich bereits in Richtung eines Dachverbands für die nationalen Filmwesen transformiert“ habe. Dafür war Schengelaia dankbar und trat dafür ein, dass „unsere Gemeinschaft sich nicht auflöst. Gerade wir, die georgischen Filmschaffenden und das georgische Volk, wissen um ihre Wichtigkeit. Als die Staatsmaschinerie nach dem 9. April [1989; an diesem Tag wurden in Tbilissi eine friedliche, antisowjetische Demonstration gewaltsam von der sowjetischen Armee niedergeschlagen; Anm. der Übers.] versuchte, die Ereignisse zu vertuschen, hat der Verband der Filmschaffenden der UdSSR das praktisch verhindert. Der Verband schützte damals die Ehre der georgischen Bevölkerung.“[30]

[29]  Kinematograf: obnovlenie chudožestvennogo soznanija. Vos‘moj plenum pravlenija Sojuza kinematografistov SSSR. 15-17 maja 1989 g. Iz vystuplenij učastnikov plenuma. Moskva: Sojuz kinematografistov SSSR 1989, S. 173-174. [dt.: Erneuerung des künstlerischen Bewusstseins im Film. Achte Vorstandssitzung des Verbandes der Filmschaffenden der UdSSR. 15.-17. Mai 1989. Aus den Reden der Sitzungsteilnehmer.]

[30] Ebd., S. 141.

Am 27. Mai 1991 wurde der „Vertrag über die Gründung der Konföderation der Filmverbände“ unterschrieben, dessen Präambel folgendermaßen lautet: „Zusammenfindend in dieser schweren Zeit im Leben unserer Nationen, in vollem Bewusstsein unserer Verantwortung, eingedenk des Rechts eines jeden Künstlers auf freies Schaffen, wissend um die Unumgänglichkeit einer tiefen Veränderung der Beziehungen zwischen unseren Filmverbänden, die historischen Realitäten in Betracht ziehend und die Sorge um das Schicksal unserer nationalen Filmwesen teilend…“[31]

[31] Novaja real‘nost‘. Kak nam v nej žit‘. Sokraščennaja stenogramma III plenuma soveta federacii Sojuza kinematografistov SSSR (28-29 maja 1991 g.) Moskva: Sojuz kinematografistov SSSR 1991. [dt.: Neue Realitäten. Wie damit umgehen. Gekürztes Stenogramm der 3. Ratssitzung der Konföderation der Filmverbände der UdSSR. 28.-29. Mai 1991]

Glasnost war als Projekt zur Demokratisierung der Kulturpolitik der UdSSR konzipiert. Allerdings zeigten den öffentlichen Diskussionen über die „nationalen Filmwesen“ bald, dass eine einheitliche Kultur des Sowjetvolks nicht existierte, und alles Sowjetische mehr und mehr mit dem Russischen und damit mit einer imperialen Herrschaft des Zentrums über die Peripherie assoziiert wurde. Die Probleme der Sowjetrepubliken, die aus der Perspektive des Zentrums längst gelöst waren, standen ganz oben auf der Tagesordnung. Die vorrangig Betroffenen verschafften sich nicht nur laut Gehör, sondern luden auch Moskau zum Dialog ein.

Tatsächlich trat als erster der russische Filmverband aus dem Verband der Filmschaffenden der UdSSR aus. Er existiert noch heute, sein Vorsitzender ist Nikita Michalkow [russischer Filmemacher und Schauspieler, der sich als Pro-Putin-Propagandist betätigt; Anm. d. Übers.]

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