Bis in die Mitte der 1950er Jahre nutzte der sowjetische Staat ein breites Spektrum ideologischer Narrative. 

Wirkungsvoller Totalitarismus zeichnet sich nicht so sehr durch die Existenz einer bestimmten Idee aus, sondern basiert auf einer Person oder Gruppe, die Sinn erzeugt und verkörpert.

Nach dem Tods Stalins, oder genauer nach dem XX. Parteitag der KPdSU, auf dem Chruschtschow die Überwindung des Personenkults verkündete, wurde im gesellschaftlichen und politischen Leben der Sowjetunion ein Prozess der Depersonalisierung der Eliten in Gang gesetzt. Nebeneffekt und gleichzeitig wichtigste Folge dessen war die Dekonstruktion der sowjetischen Ideologie. 

Mit der Amtsübernahme Chruschtschows begann also eine langsame, aber fortschreitende Transformation des Regimes. 

Der Stalinismus hatte von den Menschen aktive Teilnahme verlangt. Das zeigt sich in Feuchtwangers Beschreibung der Moskauer Bevölkerung des Jahres 1937: „Ja, es geht von dieser Sowjetjugend ein ansteckendes Gefühl der Kraft und des Glückes aus. Man versteht angesichts dieser Jugend das Vertrauen der Sowjetbürger in ihre Zukunft, jenes Vertrauen, das ihnen über Mängel der Gegenwart hinweghilft.“ Und tatsächlich funktioniert Totalitarismus nur dann, wenn er Perspektiven bieten kann. Während der Tauwetter-Periode witzelte man: „Unter Stalin stand die Wirtschaft am Abgrund, unter Chruschtschow hat sie einen erheblichen Schritt nach vorn gemacht.“ Die Zerstörung der stalinschen halbreligiösen Despotie brachte eine Reihe gesichtsloser Führungspersönlichkeiten hervor. 

Bis 1956 war die Idee des Großen Sieges im Bewusstsein der sowjetischen Bürger und der Eliten mit dem Mythologem der Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte verknüpft. 

Offensichtlich können sich die heutigen politischen Systeme im osteuropäischen Raum kaum ein monolithisches totalitäres System erlauben. Die der spätsowjetischen Nomenklatur entstammenden Führungspersönlichkeiten müssen aber konzeptuelle Modelle der Vergangenheit bereitstellen. Das ist ganz logisch. Die neuen, 1991 gegründeten Länder verfügen über keine vorgefertigte politische Geschichte. Der Personenkult kann nicht neu aufgelegt werden: Der historische Moment ist ein anderer und angesichts Informationsflut wirken die aktuellen Begebenheiten unbedeutend, verglichen mit den Geschehnissen der Vergangenheit. 

Der Übergang der Gesellschaft vom totalitären Konsens der aktiven Teilnahme zum autoritären Konsens der Abwesenheit provoziert die Selbstreplikation der reinen Form, die der Idee die Luft und damit das Leben und den Inhalt nimmt. 

Diesen Prozess bezeichnet Alexei Yurchak in seinem Buch „Everything was Forever, Until it was No More“ [Orig.: Ėto bylo navsegda, poka ne končilos‘] als eine performative Verschiebung: „Im Kontext des Spätsozialismus dominierte die Herstellung von Normen für ideologische Aussagen, Rituale und Symbole vor allem auf der formalen Ebene, wobei sich ihr Sinn verschob, sich vom wortwörtlich festgelegten Sinn unterschied.“

Unzählige Male wiederholte, sinnentleerte ideologische Narrative verwandeln sich in das, was in der postmodernen Philosophie als Metanarrativ oder Großerzählung bezeichnet wird, in der die Antworten schon vorher feststehen. 

Der gefährlichste, heute genutzte Metanarrativ über den Zweiten Weltkrieg ist der des Großen Vaterländischen Krieges. Zum ersten Mal wurde er von Molotow während eines Auftritts am 22. Juni 1941 verwendet. 

Ironischerweise war es gerade Molotow, der in seiner Rolle als Volkskommissar für Auswärtiges den nach ihm selbst und Ribbentrop benannten Pakt unterzeichnete. Bekanntermaßen war das Ziel dieses Dokuments, Einflusssphären unter den zwei Staaten aufzuteilen – die Auseinandersetzung befand sich also in einem Stadium, im dem die Sowjets alles andere als Opfer sind. 

Mich beschäftigt aber nicht so sehr die Unhaltbarkeit des Ausdrucks „Großer Vaterländischer Krieg“, als vielmehr der darin angelegte Versuch, die Geschichte umzuschreiben und die globalen historischen Zusammenhänge zu ignorieren.

Das Konzept des Sieges, vor allem in einem scheinbar eigenständigen, separaten (vaterländischen) Krieg – als wäre dem nichts vorausgegangen – ist ein sehr gutes quasiideologisches Fundament für den zeitgenössischen postsowjetischen Autoritarismus. 

Ein wichtiger Aspekt dabei ist, dass dieses Narrativ in der heutigen Realität dazu geeignet ist, politischen Absentismus bzw. Nichtteilnahme hervorzurufen. Während Stalin sich bis zum XX. Parteitag selbst zum Urheber des Großen Sieges stilisierte, verlagerte sich in den darauffolgenden Jahren vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Depersonalisierung der Eliten der Fokus vom siegreichen Führer zum siegreichen Volk.

Das falsche Konstrukt des Großen Vaterländischen Krieges dient heute dazu, ein Trugbild zu erschaffen: Alle hatten ihren Anteil am Sieg, einer in sich abgeschlossenen Episode – diese in die Vergangenheit weisende Idee ist dazu verdammt, ein Denkmal ihrer selbst zu sein. 

1941 war das Narrativ des Vaterländischen notwendig, um die Bevölkerung gegen eine reale Bedrohung zu vereinigen. 

Nach dem Krieg aber hätten die Probleme des historischen Verlaufs und der eigenen Rolle den Ideologen in vollem Umfang bewusst werden müssen.  

Die Sakralisierung der Jahre 1941 bis 1945 hätte eine Antwort finden müssen auf die Frage „Wann begann der Krieg und wann endete er?“. Es ist, als ob der spanische Bürgerkrieg, der sowjetisch-finnische Krieg, die Besetzung Ostpolens, die Invasion der Mandschurei oder auch die Teilung der koreanischen Halbinsel einfach ausgeklammert wurden. Dank ihrer Propagandamaschine erscheint die Sowjetunion als unbefleckter Akteur. Und das, obwohl der Zweite Weltkrieg nüchtern betrachtet das Ergebnis eines weltweiten Totalisierungsprozesses der Staaten war, die auf den Trümmern der nach dem Ersten Weltkrieg in sich zusammengestürzten Monarchien entstanden waren.  

Die Autokratien heute nutzen den Metanarrativ des Großen Vaterländischen Krieges zur Legitimation ihrer Existenz. Die Grenze zwischen dem Moralischen und dem Unmoralischen verläuft also zwischen denen, die sich bereitwillig nach der tragischen Vergangenheit wie nach einem Heiligtum ausrichten, und denen, die versuchen, in der Zukunft nach dem „Ende der Geschichte“ zu suchen: nicht dem, in dem die westliche Demokratie sich endgültig durchsetzt, sondern in dem die Waffe der Ideologie ihre Wirkmächtigkeit verloren hat. 

Die Spaltung verläuft entlang der primitiven Unterscheidung zwischen den Eigenen und den Fremden. Nicht zufällig begleiteten Regierungsverlautbarungen à la „Habt ihr Stalingrad vergessen?“ oder das menschenfresserische „Wir können das wiederholen“ die politische Krise in Belarus. Das Konzept des äußeren Feindes ist heute untrennbar mit dem Narrativ des Großen Vaterländischen Krieges verknüpft.