Briefe nach Berlin

Trans-Geschichte(n)
aus den 1930er Jahren

Contents

Historischer Kontext

Der Begriff Transvestitismus wurde 1910 von Magnus Hirschfeld, einem jüdischen, homosexuellen Sexualwissenschaftler eingeführt. Dieser bezeichnete damit vor allem Menschen, den Drang hätten, die Kleidung des nicht bei Geburt zugeschriebenen binären Geschlechtes zu tragen. Er leitete sich den Begriff ab vom lateinischen trans, was entgegengesetzt bedeutet und vestis, lateinisch für Kleid. Die Einführung des Begriffes Transvestitismus und damit auch der Begriffe Transvestit und Transvestitin, hatte in den Jahren nach Hirschfelds Publikation einen großen Einfluss auf die Einkategorisierung der betroffenen Personengruppen. Sowohl in der Medizin als auch in der polizeilichen Praxis wurde nun expliziter unterschieden. Aber auch viele Betroffene finden an, sich mit den neuen Begriffen zu identifizieren, baten diese doch Halt und neue Möglichkeiten der Identitätsfindung.

Maja

In Hella Knabes Kund*innenblatt abgedruckter Brief von Maja an Hella Knabe; Maja: Liebe Hella, in: Landesarchiv Berlin: Strafakte Hella Knabe, Akten-Nr.: A Rep. 358-02-132636, Blatt 164.

Liebe Hella,

Nun umgibt mich wieder Alltag und Sorgen, aber fassen kann ich es nicht, dass das Erleben des zweiten Ich bei Dir, liebe Hella, nun nicht mehr sein soll. Wohl ist es einmal Wehmut, wenn ich an die beglückenden Tage zurückdenke, rufe ich mir aber das ganze Erleben ins Gedächtnis zurück, so kann ich nicht umhin, vor überschäumender Glückseeligkeit Dir nur immer dankbar zu sein.

Mit verkehrten Rollen. Von Emi Wolters.

In Hella Knabes Kund*innenblatt abgedruckter Brief von Emi Wolters an Hella Knabe; Wolters, Emi: Mit verkehrten Rollen. Von Emi Wolters, in: Landesarchiv Berlin: Strafakte Hella Knabe, Akten-Nr.: A Rep. 358-02-132643 S. 1050/1.

Mit verkehrten Rollen.
Von Emi Wolters.

Im vorigen Sommer – 1935 – hatte ich in dem, etwa 2 Wegstunden von meinem Domizil entfernten Hirschburg eine Streitigkeit zwischen zwei nahen Verwandten zu schlichten. Von uns aus fährt täglich um 7 Uhr früh ein Verkehrsautobus nach Hirschburg, das diese Bezirksstadt mit Tannenberg, einer vielbesuchten böhmischen Sommerfrische verbindet und die ebenfalls etwa 2 Wegstunden von meinem Domizil entfernt ist, sodaß ich nach beiden Orten täglich verbunden bin, auch haben beide Orte eine Bahnstation.

Wesensverschiedenheiten. (Schluss) Von Emi Wolters.

In Hella Knabes Kund*innenblatt abgedruckter Text von Emi Wolters; Wolters, Emi: Wesensverschiedenheiten (Schluss), in: Landesarchiv Berlin: Strafakte Hella Knabe, Akten-Nr.: A Rep. 358-02-132644, Blatt 1143.

„Ohne sich einzubilden, weder Maler, noch Gelehrter noch sonst etwas Großes gewesen zu sein, weiß der Schreiber (vielmehr die Schreiberin) dieser Zeilen aus Eigenem, was ein Transvestit zu erleiden hat. Emi Wolters hat Jahrzehntelang in leitender Stellung als Mann gewirkt und vieles geschaffen. Zunächst als Musiker: Von ihr sind viele Kompositionen bei großen Verlagsanstalten erschienen. Dann als Mundartdichter und Vortragsmeister. Ihre 3 Bände Dialektdichtungen erlebten viele Auflagen. Dann als Schriftsteller: Außer 9 großen wissenschaftlichen Werke (darunter eines in 4 Bänden) erschienen in vielen führenden Zeitschiften etwa 200 größere und kleinere Abhandlungen und Aufsätze. Dann als Maler: Ihre Landschaften (namentlich Italien, Riviera, Orient) wurden stets gern gekauft. Und alles schuf sie als Frau. Wiederholt mußte sie über den Unsinn, die Gedankenlosigkeit und Stümperhaftigkeit lachen, die sie beim Durchlesen und Wiederbearbeiten ihrer Schöpfungen vorfand, wenn sie gezwungen war oder sich berufen fühlte als Mann zu arbeiten. Der Mann in ihr war Bürokrat, ein nüchterner, verknöcherter Aktenmensch mit kläglichen Ansichten, hohlen Phrasen und starren Gedanken [Auslassung].

Wie alles begann!

In Hella Knabes Kund*innenblatt abgedruckter Brief von Georgette; Georgette: Wie alles begann, in: Landesarchiv Berlin: Strafakte Hella Knabe, Akten-Nr.: A Rep. 358-02-132644, Blatt 1279/10.

In jungen Jahren war ich glücklich, wenn mir die Gelegenheit gegeben war, irgendein weibliches Kleidungsstück anzulegen, welche ich unbemerkt auf Minuten mal erlangen konnte. Später genügte mir dies nicht mehr, ich also ließ mir Wäsche, Unterröcke und Kleider von einem Berliner Versandgeschäft schicken und war glücklich, wenn ich dieselben Abends in aller Heimlichkeit anlegen konnte. Der Krieg brach aus und heimlich wurde ein Damenhöschen im Tormister mitgeführt, als mein Talisman. Trotzdem habe ich meinen Mann gestanden, war ich doch der Erste der Kompanie, welcher das Eiserne Kreuz erhielt im März 1915. Im vorletzten Kriegsjahr entdeckte ich durch Zufall im Schützengraben ein Brettchen, beim Beklopfen bemerke ich, dass es sich um eine von Flüchtlingen vergrabene Kiste handelt.

Erna

In Hella Knabes Kund*innenblatt abgedruckter Brief von Erna an Hella Knabe, in: Landesarchiv Berlin: Strafakte Hella Knabe, Akten-Nr.: A Rep. 358-02-132636, Blatt 211.

Sehr geehrte Frau Dr. Knabe,

habe den Brief mit großen Dank erhalten. Habe mich wieder sehr gefreut. Ich will Ihnen, Frau Dr., mal einen kleinen Auszug aus meinem Leben geben. […] Wir waren 7 Geschwister, 5 Mädel und 2 Jungens. Ich bin der Jüngste. Wir lebten in Zufriedenheit und guter Erziehung heran. Bis zu meiner Schulzeit bin ich nur in Röckeln gelaufen. Auch während der Schulzeit habe ich viel Röcke getragen. Ich spielte schon mit meinen Geschwistern immer mit Puppen. Was mir auch immer gefallen hat. Ich war immer nur mit Mädels zusammen. Wenn ich auch manchmal verspottet wurde desto fröhlicher war ich. Auch habe ich mein Haar sehr lang getragen und meine Schwester hat mir immer sehr schöne Schleifen eingeflochten. Da war ich immer sehr glücklich, wenn ich mit dem Puppenwagen auf die Straße fahren konnte.

Kai* Brust ist ein*e Transhistoriker*in mit Forschungsschwerpunkt auf der Geschichte der Zuschreibung von Gender-Nonkonformität im Nationalsozialismus. Für das Projekt „Briefe nach Berlin“ hat Kai* Dokumente aus den 1930er Jahre ausgewählt, die die Geschichte(n) von Personen, die sich selbst als Transvestiten und Transvestitinnen identifizierten, erzählen. Kai* hat die Briefe dann von trans und nichtbinären Freund*innen vorlesen und aufnehmen lassen. Das Projekt sieht Kai* als Teil einer Trans-Erinnerungskultur in Bezug auf den Nationalsozialismus, die in den nächsten Jahren hoffentlich noch weiter wachsen wird. Alle Dokumente stammen aus dem Landesarchiv Berlin. Ein besonderer Dank geht an alle Vorleser*innen und an die Archivar*innen des Landesarchivs Berlin, ohne die das Projekt in diesem Umfang nicht möglich gewesen wäre.